5. Mai Tag der Inklusion: Gehalt statt Taschengeld
Die Lebenshilfe fordert einen gemeinsamen Arbeitsmarkt für alle.
Wien, 5. Mai 2021: Anlässlich des Tages der Inklusion übergaben VertreterInnen der Lebenshilfen und des Österreichischen Behindertenrats Bundeskanzler Sebastian Kurz ihre Forderungen nach einem inklusiven Arbeitsmarkt und fairer Entlohnung. Mit im Gepäck hatten sie Tausende von Unterschriften von Menschen, die das Anliegen teilen. Ein Erklärvideo veranschaulicht, wie durch das „2-Säulen-Modell“ der Lebenshilfe Menschen mit Behinderungen zukünftig Geld für ihre Arbeit und ihre notwendige Unterstützung bekommen sollen.
Mario H. zum Beispiel, der Protagonist im neuen Erklärvideo der Lebenshilfe Österreich, arbeitet im Rahmen der Tagesstruktur in einer Gärtnerei und erhält am Monatsletzten 40 Euro Taschengeld für seine Arbeit. So wie ihm geht es vielen Menschen mit Behinderungen. Ihre Arbeitsleistung zählt nicht als Erwerbsarbeit. Betroffene haben auch keinen eigenständigen Anspruch auf Sozial- und Pensionsversicherung oder einen Kollektivvertrag. Das soll sich ändern.
Unser Lösungsvorschlag: „2-Säulen-Modell”
„Mit dem „2-Säulen-Modell” zeigen wir eine Lösung auf, die Menschen mit Behinderungen neue Wege zu einer Einkommens- und Bedarfssicherung bietet“, erläutert Dr. Carina Pimpel, interimistische Generalsekretärin der Lebenshilfe Österreich. Unser Ziel ist es, berufliche und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und Abhängigkeiten von Sozial- und Unterhaltsleistungen zu beseitigen, damit Menschen mit Behinderungen, wie Mario H. in unserem neuen Erklärvideo, ihre Fähigkeiten stärken, passgenaue Unterstützungsleistungen beziehen und somit selbstbestimmt mit eigenem Einkommen für ihre Arbeit leben können.
Statt einer Dreiteilung des Arbeitsmarktes soll es einen inklusiven Arbeitsmarkt geben. „Das beinhaltet das Recht darauf, zwischen Arbeit am regulären Arbeitsmarkt, in integrative Betriebe und eine Werkstätte wechseln zu können, je nach Fähigkeiten,“ so Hanna Kamrat Vizepräsidentin der Lebenshilfe. Dazu gehört auch der Anspruch auf Sozial- und Pensionsversicherung sowie die Anwendung von Arbeitsrecht und Kollektivvertrag.
Die Umsetzung
Das „2-Säulen-Modell” gilt auch für Menschen mit hohem und komplexen Unterstützungsbedarf und ihre Arbeitsanstrengung. Zentral ist dabei, dass das Modell den Menschen mit seinen Fähigkeiten und Ressourcen sieht und sich von einem defizitorientierten Menschenbild verabschiedet.
Schließlich ist davon auszugehen, dass das „2-Säulen-Modell” nicht mehr als das jetzige komplexe System der Behindertenhilfe kosten soll. Im Gegenteil: Der volkswirtschaftliche Nutzen ist ungleich höher. Die Lebenshilfe regt an, dies in einem Modellprojekt aufzuzeigen und anschließend national umzusetzen.
Die 7 Forderungen der BehindertenvertreterInnen im Detail
Gemeinsam mit dem Österreichischen Behindertenrat und SelbstvertreterInnen aus seinen Mitgliedsorganisationen übergaben wir Bundeskanzler Kurz ein Umsetzungspapier zur Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarktes mit folgenden Kernforderungen:
1. Beseitigung der Zugangshürde zu Leistungen des Bundes (Ausgleichstaxfonds nach dem Behinderteneinstellungsgesetz, Vermittlungs- und Qualifizierungsmaßnahmen des Arbeitsmarktservice/AMS, NEBA-Leistungen des Sozialministeriumsservice/SMS) für Personen, die gegenwärtig als „arbeitsunfähig“ gelten.
2. Schaffung eines bedarfsgerechten Zugangs zu berufsunterstützenden Maßnahmen, Beratungs- und Vermittlungsleistungen und Ermöglichung von Fort- und Weiterbildung.
3. Erlassung eines Grundsatzgesetzes des Bundes, um für Personen, die gegenwärtig als arbeitsunfähig gelten, in den behindertenrechtlichen Materiengesetzen der Länder das Recht auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung unter Anwendung des Arbeitsrechts auf Grundlage einer kollektivvertraglichen Entlohnung zu verankern.
4. Etablierung eines personenbezogenen Lohnkostenzuschusses, der sich nach der prozentuellen Bewertung des Unterstützungsbedarfs der Person bemisst. Die finanziellen Ressourcen sollen aus einem Inklusionsfonds stammen.
5. Schaffung von individualisierten Arbeitszeitmodellen bei vollem Lohnausgleich zugunsten von Personen, denen behinderungsbedingt eine Arbeit in Vollzeit nicht möglich ist.
6. Errichtung eines inklusiven, durchlässigen Arbeitsmarktes, in dem flexible Übergänge zwischen Nichtbeschäftigung, Beschäftigung in Beschäftigungsstrukturen/ Werkstätten, in sozialwirtschaftlichen Betrieben und am ersten Arbeitsmarkt möglich sind. Ein Wechsel der Beschäftigungsform darf dabei nicht zu einem Verlust der Ansprüche führen.
7. Etablierung eines standardisierten Assessment des Unterstützungsbedarfs auf Basis der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health/ WHO), dessen Ergebnisse für alle Bereiche des Sozialrechts im Bereich des Bundes und der Bundesländer Geltung beanspruchen. Dabei muss ein Rechtsanspruch auf Teilnahme am Assessment bestehen, die Bewertung ressourcen- und fähigkeitsorientiert sowie partizipativ ausgestaltet sein und die betroffene Person das Recht haben, eine Vertrauensperson beizuziehen. Zugleich muss ein Rechtsanspruch auf die Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen (Assistenz, Hilfsmittel, Pflege), auf Grundlage des vorangegangenen Assessments eingeräumt werden.
„Derzeit sind über 23.000 Menschen mit Behinderungen in Werkstätten beschäftigt. Für sie wird es ein großer Schritt in Richtung Selbstbestimmung sein, wenn die Bundesregierung gemeinsam mit dem Parlament beschließt, dass sie endlich ein richtiges Gehalt statt Taschengeld bekommen”, so Präsident der Lebenshilfe Prof. Dr. Germain Weber.
Wir haben große Zuversicht, dass die Bundesregierung ihr entsprechendes Vorhaben aus dem Regierungsprogramm nun zügig umsetzt und der Entschließung des Bundesrates vom 4. Juni 2020 nachkommt.
05.05.2021/lhw-nr